Werner Beer: Michael Ende und sein >Jim Knopf<,
in: Albrecht Weber (Hrsg): Handbuch der Literatur in Bayern.
Vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart.
Geschichte und Interpretationen,
Regensburg 1987, S. 635-649 (in Auszügen)

Geistiger Standort und Selbstverständnis als Schriftsteller

Michael Ende versteht sich als ein entschiedener Vertreter phantastisch-surrealistischer Literatur, dessen Hauptanliegen es ist, einer durch die Aufklärung verschuldeten Fehlentwicklung unseres Wirklichkeitsverständnisses Einhalt zu gebieten und zur Wiedergewinnung einer metaphysischen Weltsicht beizutragen.
In seinem Gespräch mit Erhard Eppler und Hanna Tächl (Phantasie/Kultur/Politik) werden die historischen Ursachen unseres ganz und gar unzureichenden Wirklichkeitsbegriffs aufgezeigt. Demnach führt der Weg von den Sokratikern, die mit logischen Argumenten Wahrheit, d.h. Objektives finden wollten, zu Vertretern eines quantifizierten Denkens, wie Giordano Bruno, Galileo Galilei und Newton, wodurch die Einheit der Welt in eine objektive Wirklichkeit und eine subjektive Innerlichkeit zerrissen wurde. So erklärt sich, daß wir heute objektiv als Synonym für wahr und subjektiv als Synonym für illusorisch gelten lassen. Descartes Unterscheidung zwischen "res cogitans" und "res extensae" führte dann auch noch zur Entleerung des Naturbegriffs. Konsequenterweise entstanden daraus Materialismus und Positivismus [...]. Eine entsprechende Ahnenreihe derer, die zur Desillusionierung der Menschheit beigetragen haben, sieht er in den intellektuellen Dunkelmännern Kopernikus, Darwin, Marx, Freud und Einstein [...]. Um aus dem so entstandenen Dilemma heruaszufinden, bedürfe es eines Bewußtseinssprungs von der Eindimensionalität zur Vieldimensionalität des Denkens [...].
Hilfreich und notwenig wären zudem positive Utopien, wie sie in den Idealen der französischen Revolution, "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", vorgegeben sind. Angewandt auf unsere Gesellschaft wäre es Aufgabe des Staates, Gleichheit vor dem Gesetz zu schaffen, Aufgabe des Geisteslebens, der individuellen Begabung uneingeschränkte Freiheit zu ermöglichen, Aufgabe des Wirtschaftslebens, Brüderlichkeit zu üben [...]. Ende weiß sich als Dichter im Bereich des Geisteslebens gefordert. [...] Anders als das Historisch-Museale, das Wissenschaftlich-Analytische und der durch Diffamierung der Kunst als Lüge destruktive Nihilismus verfügt wahre Kunst allein über die das Humane erhaltenden schöpferischen, heilenden Kräfte. Bestimmende Postulate sind folgerichtig neben der Freiheit im Geistesleben die Gleichsetzung von Kunst und Schönheit sowie Kunst als Medium der Wirklichkeitsbewältigung. In diesem Sinn definiert er Poesie als die schöpferische Fähigkeit des Menschen, sich in der Welt und die Welt in sich zu erfahren und wiederzuerkennen, als anthropomorphistisch und als das Ewig-Kindliche im Menschen. [...] Hier erfolgt die Einschränkung durch Michael Ende selbst, der davon überzeugt ist, daß es in der Welt noch andere Kräfte und Mächte gibt, die hilfreich eingreifen [...].
Das knapp skizzierte Kunstverständnis zeigt Endes starke Verbundenheit mit der deutschen Romantik. Besonders Tieck und E.T.A Hoffmann, Eichendorff, Novalis und die Brüder Grimm werden als Vorbilder genannt. Weil ich versuche, an die deutsche Romantik auch stilistisch anzuknüpfen, - und weil sie die originäre deutsche Kulturleistung ist [...].
Wichtige Autoren sind für ihn sodann u.a. Shakespeare, die Weimarer Klassiker, Dostojewski, Kafka, Rabelais, Borges, Marquez, Tolkien und Lewis sowie Beagle und Blixen. Philosophische EInsichten kommen von Lao-Tse, Plato, Nietzsche, Kierkegaard, R. Steiner [...]. Michael Ende jat sich zudem dreißig Jahre intensiv mit allen okkulten Systemen der Welt beschäftigt (u.a. Zen-Buddhismus, Rosenkreutzer, Alchimisten, Kabbala) und lernte daraus die Eigengesetzlichkeit von Bildern, die Lebensprozesse besser erfassen als Begriffe. Dieses Denken in Beziehungen habe ich dreißig Jahre regelrecht geübt [...]. Dem entspricht seine Vorliebe für Chagall, mit dessen Stil, Urbilder, Innenbilder, Traumbilder suchend, die auf der ganzen Welt die gleichen sind [...]. Überhaupt habe ihn die phantastisch-surrealistische Malerei, vom Vater vermittelt, geprägt. In einem Gespräch mit Christian Lindner bekennt Michael Ende in Ahnlehnung an J.L. Borges über Shakespeare: In mir ist niemand. Mit allen Schriftstellern teilte er das Schicksal viele Identitäten zu haben, aber eben keine in Wirklichkeit [...], oder nur eine scheinbare, eine, die er sich aufsetzt wie eine Maske, um mit den Menschen seiner Umwelt in irgendeiner Weise zu verkehren.
Für ihn gibt es zwei verschiedene Arten von Autoren: Es gibt die Autoren - oder Maler oder Musiker -, die sich ausdrücken wollen - nehmen Sie Beethoven; und es gibt den anderen Künstler, der aus dem Spiel heraus arbeitet, der gar nicht den Drang hat, verstanden zu werden als Person - nehmen sie Mozart [...] Ich stehe auf Mozart. Phantasie ist für ihn die Summe vieler Erfahrungen, die aber als Gesamtheit, als Bild wieder auftauchen [...] Alles, was ich vergessen habe, taucht in der Tat in meinen Büchern wieder auf, aber eben in veränderter Form [...].

Geboren am 12.11.1929 in Garmisch-Partenkirchen, Sohn des Hamburger Malers Edgar Ende (1901-1965), einer der ersten bedeutenden surrealistischen Maler in Deutschland, und der Saarländerin Luise Ende, geb. Bartholomä.
Kindheitsjahre ab 1931 in München-Pasing, ab 1935 in München-Schwabing, im Umkreis von Malern, Bildhauern, Literaten und deren Kindern. Besuch der Volksschule, Übertritt ins Maximiliansgymnasium; erste Begegnung und Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im "Jungvolk", Einstufung der Werke des Vaters als "entartete Kunst" mit Berufsverbot und dessen Eiberufung zum Kriegsdienst. Erfahrung der Verfolgung und Verhaftung jüdischer und nichtjüdischer Freunde der Familie. 1943 wegen Luftangriffen evakuiert nach Garmisch; 1944 Zerstörung des väterlichen Ateliers in München mit 500 Bildern. In den letzten Kriegstagen Stellungsbefehl und Flucht nach München. Mitwirkung als Kurier bei der "Freiheitsaktion Bayern" bis zur Kapitulation.
1945 Neubeginn der Familie, Atelier des Vaters in Schwabing. Nach einem weiteren Jahr Gymnasium Besuch der Freien Waldorfschule in Stuttgart, die z.T. schlimme Erfahrungen in der öffentlichen Schule (Ohnmacht und Minderwertigkeitsgefühl) überwinden hilft. Bereits mit 14 Jahren Drang zum Schreiben von Gedichten, kleinen Erzählungen, später Stücke für das Theater. 1948-50 Ausbildung als Schauspieler an der Otto-Falckenberg-Schule München. Eine Reihe von Mißerfolgen lähmt die Entwicklung: Kritiker und Lektoren ignorieren sein erstes Drama; das erste Engagement in Rendsburg als Schauspieler bringt nur Nebenrollem; der Versuch mit einer Tragikomödie endet bei der Uraufführung in Frankfurt/Main als absoluter Negativ-Rekord.
1952/1953 Verfasser von Texten für politisch-literarische Kabaretts; Regie am Volkstheater München; ab 1954 Filmkritiker beim Bayerischen Rundfunk. Vierjährige Auseinandersetzung mit der Theorie Brechts führt zu dem Entschluß, das Schreiben aufzugeben. Das Geld reicht nicht mehr für die Miete. Ein Graphiker bittet ihn um einen Bilderbuchtext. Die Lust am Fabuleren ohne Plan führt zu >Jim Knopf<, ein Kinderbuch mit fast 500 Seiten, das 1958 fertiggestellt ist. Nach anderthalb Jahren, abgelehnt von zehn Verlagen, übernimmt Lotte Weitbrecht vom Thienemann Verlag das Werk, geteilt in zwei Bände.
1960 erscheint Band I >Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer<, 1962 Band II, >Jim Knopf und die Wilde 13<. Band I erhält 1961 den Kinderbuchpreis im Deutschen Jugendbuchpreis. Damit Beginn als Erfolgsautor: riesige Verkaufszahlen, Übersetzungen in etwa 30 Sprachen (Stand 1984).
1964 Eheschließung  mit der Schauspielerin Ingeborg Hoffmann.
1970/71 Übersiedelung nach Genzano bei Rom. Es entstehen der Märchenroman >Momo< (1973), erneut ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974. Mark Lothar komponiert hierzu 1975 die Oper >Momo und die Zeitdiebe<. Es folgen: >Das Gauklermärchen< (1976), >Die unendliche Geschichte< (1979), ausgezeichnet mir "Großer Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach" (1980) und sieben weiteren Preisen, >Der Spiegel im Spiegel< (1984), >Der Goggoloori< (1985). Neben Nonsens-Gedichten >Das Schnurpsenbuch< (1968) und >Die Schattennähmaschine< (1982) erscheinen noch sieben Bilderbücher, >Das Lumpenkasperle< (1976), >Lirum Larum Willi Warum< (1978), >Das Traumfresserchen< (1978), >Der Lindwurm und der Schmetterling< (1981), >Tranquilla Trampeltreu< (1982), >Norbert Nackendick< (1984), >Filemon Faltenreich< (1984).
Als Ergebnis zeitkritischer Überlegungen ist >Phantasie/Kultur/Politik< (1982) und als Auswahlband >Mein Lesebuch< (1983) zu nennen.
Neben den bereits angeführten Preisen erhielt das literarische Werk den Janusz-Korczak-Preis 1981, den internationalen Preis Lorenzo il Magnifico 1982 und den italienischen Kulturpreis bronzi die riace (Kiwanis Literaturpreis). >Momo< und >Die unendliche Geschichte< stehen seit Jahren auf der Bestsellerliste. Die Gesamtauflage beträgt über drei Millionen Exemplare (Stand1984). Beide wurden wirksam verfilmt.
Nach dem Tod seiner Frau (1985) ist Michael Ende wieder nach München zurückgekehrt.

[Ergänzung: Nach langer, schwerer Krankheit ist Michael Ende am 28. August 1995 gestorben]

 

Fortsetzung des Artikels in Kürze!

 

Michael Ende (1982)

 

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